Wintergunge

Leseprobe: »Eisfieber«

 

Es schneit.

Ich versinke in dem Anblick des dichten Gestöbers,

spüre die winzigen Kristalle auf meinem Gesicht.

Wie feine Nadeln kribbeln sie auf meiner Haut – da erspähe ich dein Gesicht.

Blass und lächelnd siehst du mich an.

Unwillkürlich mache ich einen Schritt auf dich zu, bewege mich auf dem dünnen Eis.

Was mache ich da bloß?

Die kalte Welt ist grausam.

Sie vernichtet alles, was sich ihr unwissend nähert.

Nur so bewahrt sie ihr eigenes Leben.

Und bald auch meins …

 

 

Rovaniemi im Sommer

Die Reise nach Rovaniemi war überaus angenehm. Endlich einmal kein Versteckspiel, kein Abhauen bei Nacht und Nebel, keine Lügen – und die Option, nach der Rückkehr die Ferien bei Heide ausklingen lassen zu dürfen, während meine Mutter mit ihrem alten Neuen, genau genommen, mit ihrem Beinahe-Mörder (manchmal passieren wirklich die unglaublichsten Dinge!), für nach der Arbeit und an den Wochenenden Unternehmungen plante. Auf ihrer neuen Stelle standen ihr noch keine Urlaubstage zu.

Jetzt hatte ich, was ich unbedingt wollte – war im Sommer bei meinem Winterjungen. Arm in Arm spazierten wir durch die Wiesen – es war warm und die Bienen summten zwischen den Wildblumen. Doch irgendetwas war anders als vor einem Jahr. Lag es daran, dass wir so vertraut miteinander waren? Dass Kai so selbstverständlich mit mir umging? So, als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich in seine Welt übersiedelte? Um den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen?

 

Wie sehr ich es genoss, ganz eng mit ihm zusammen zu sein. Gelegentlich kam es mir vor, als ruhe sein Blick ungewohnt prüfend auf mir. Und das schon seit drei wundervollen Tagen, an denen wir umherspazierten, damit ich mein Dorf endlich einmal bei hochsommerlichen Temperaturen einsaugen konnte, bevor ich mit den besonderen Stiefeln wieder bis Rovaniemi Winterstadt musste, um von dort aus mit dem Bus zum Flughafen zu fahren. Dass meine große Liebe so schweigsam war, verdrängte ich. Bestimmt wollte er meine Eindrücke nicht stören.

So dachte ich.

Nein.

Damit beruhigte ich mich. Denn wenn man sich küsst, kann man nicht reden. Nur – hatten wir uns bei unserem letzten Treffen nicht öfter geküsst? Und waren seine Küsse nicht leidenschaftlicher gewesen?

 

Weil Kai an unserem letzten gemeinsamen Tag mit den anderen Zimmerleuten aus dem Dorf einen Anbau hochziehen musste, zog ich alleine los. Am Kanal setzte ich mich auf meine Jacke, zog meine Sandalen aus und hielt die Füße ins eiskalte Wasser.

Warum diese verdammten Zweifel? Hingen sie mit Heide zusammen? Oder doch mit meiner Mutter, die Anstalten machte, wieder ein vernünftiger Mensch zu werden? Ein Mensch, der eng zu mir gehörte? Oma war tot – ich könnte in ihr Haus ziehen. Zumindest später, wenn ich erwachsen wäre und doch nicht in die geheime Welt übersiedelte. Aber das war nur Theorie. Natürlich wäre ich bald weg aus Essen. Keine Frage, das! Andererseits - was würde Andrea zu all dem sagen? Dass ich mich ehrlich fragen müsse, ob ich den gewohnten Luxus eben doch vermissen würde? Mein Handy, das Fernsehen, später ein eigenes Auto? Die Urlaube?

Hilfe!

Warum bloß hatte ich keine Freundin, mit der ich all meine Gedanken teilen konnte? Die mir zuhörte und mich beriet?

Das weißt du ganz genau, holte mich die kleine innere Stimme auf den Boden der Tatsachen zurück.

Vor meinem inneren Auge hockte ich, genau wie jetzt, alleine auf einer Wiese an genau diesem Kanal, auf dem ich mit Kai im tiefsten Winter Schlittschuh gelaufen war. Wieder im Sommer und genauso alleine. Wenn du Sorge hast, dich zu Tode zu langweilen, dann lass es sein, trötete die innere Stimme unbarmherzig in meine Überlegungen hinein. Ich zog die Beine an und machte mich ganz klein, stützte den Kopf in die Hände und glotzte auf den Boden. Rechts von mir schleppten zwei Ameisen eine fette Tannennadel nach Irgendwo. Könnt ihr mir bitte sagen, was ich wirklich möchte?, fragte ich sie und fühlte, wie sich mein Magen zusammenzog. Ich brauche nämlich gerade eine Verbündete, so etwas wie eine allerbeste Freundin, die mir sagt, wo es langgeht. Ich blinzelte in das glitzernde Wasser. Jemanden, der mir dabei hilft, herauszufinden, wie ich sein will. Und vor allem, der mir rät, wo ich sein will.

Statt einer Antwort flatterte ein Schwarm Zitronenfalter aus den Gräsern neben mir hoch und tänzelte ans Wasser. Angestrengt verfolgte ich ihren chaotischen Flug, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Meine Füße waren getrocknet und ich zog meine Sandalen wieder an. Langsam schraubte ich mich in die Senkrechte und schlenderte, ohne nachzudenken, einen schmalen Weg entlang. Bevor ich das Schild Polarkreis mit der Kilometerangabe richtig wahrgenommen hatte, passierte es.

„Ich möchte dir etwas zeigen“, säuselte eine bekannte Stimme, als auch schon der milchige Nebel von mir Besitz ergriff. „Schau genau hin“ wisperte Pinto, der geniale Geist der geheimen Winterwelt, mir ins Ohr.

Schriften traten vor meine Augen. Ich konnte sie nicht lesen, aber es war, als tanzten die Buchstaben sich zu Bildern zurecht. Sie waren blass, schemenhaft, wie hingehaucht. Sofort ließ ich mich von ihnen fesseln. Was sie zeigten? Ich weiß es nicht genau, aber ich erkannte Menschen, die sich an den Händen fassten. Sie bildeten einen Kreis, der sich später in demselben trägen Tempo auflöste, wie er sich zusammengesetzt hatte. Sphärische Klänge entstanden in meinem Kopf, so sanft und schön, dass ich glaubte, gleich weinen zu müssen. Ein junges Mädchen und ein junger Mann schritten durch den Kreis, ihnen folgten zwei gleich große Kinder, nein, es waren Blumen – oder doch Kinder? Eine Person hielt mir einen Krug entgegen, aber als ich ihn ergreifen wollte, löste sich auch dieses Bild auf und man trug eine große Kiste – einen Sarg – jetzt begleitete ein merkwürdiger Singsang die unwirkliche Gesellschaft. Ich fühlte keinerlei Trauer – und tatsächlich – die Gruppe der Leute saß beisammen und jeder hob sein Glas, als ein Haus seine Türen öffnete, Blumen lagen im Eingang, der sofort vor meinen Augen verschwamm. Der junge Mann nahm die Frau - oder war es ein Kind oder seine Braut? – auf den Arm und trat in das Haus ein, das mit einem Mal größer wurde – und sich auflöste. Jetzt rollte sich Schnee zu Kugeln, dazwischen wurde alles grün und Blumen nickten sich zu. Dann wieder Schnee und die betörende Musik von vorhin. Mir wurde schwindelig. Gleich würde ich umfallen. Da vernahm ich wieder seine Stimme. „Faszinierend, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht, was das bedeuten soll“, hörte ich mich undeutlich sagen.

„Nicht?“ Die Erscheinung lächelte – und löste sich endgültig auf.

Mir war übel und ich verlor das Gleichgewicht.

Als ich die Augen aufschlug, blendete mich das Sonnenlicht. Ich konnte nicht sagen, was ich soeben gesehen hatte.

„Hab mir gedacht, dass ich dich hier finde“, sagte Kai, der neben mir kniete und mich ansah. Mich durchfuhr ein Glücksblitz, obwohl – sein Blick war so ernst.

Egal.

In diesem Moment war alles klar. Freudig schaute ich gegen die Helligkeit blinzelnd in sein wunderschönes Gesicht, das die Sonnenstrahlen von hinten wie mit einem Strahlenkranz einrahmten.

Für immer. Ganz gleichgültig, was passierte! Denn es ist nicht wahr, dass man für eine solch schwerwiegende Entscheidung zu jung ist. Das sagen einem nur die Erwachsenen, weil sie nicht schuld sein wollen, wenn es schief geht. Dabei geht bei ihnen viel mehr schief, als wenn man jung ist. Nein. Ich hatte mich entschieden. Kai und ich. Es fühlte sich genau richtig an. Auch wenn eine ganze Welt mitentschieden werden musste.

Er kniete immer noch neben mir und streichelte meine Wange. Seine Augen hatten einen eigenartigen Glanz. Ich wollte seine Hand nehmen, aber er entzog sie mir. Wie von selber bewegten sich meine Arme in die Richtung seines Halses, wollten ihn umschließen, damit ich mich an ihn heranziehen konnte. Aber sein Oberkörper bog sich zurück und meine Hände griffen ins Leere. Mit Blicken tastete ich ihn ab, durchsuchte jede kleine Bewegung seines im Moment eingefrorenen Mienenspiels. Irgendetwas stimmte nicht.

„Lu – es fällt mir sehr schwer – also – dir jetzt zu sagen, was gesagt werden muss.“ Er sprach merkwürdig gebrochen.

In meinem Bauch entwickelte sich ein unguter Klumpen.

Er nahm meinen Kopf in seine Hände, zog ihn aber nicht wie so oft an seinen heran. Immer noch sah er mir in die Augen.

Ich begriff nicht. Stattdessen versteinerte ich.

Sein Griff war so sanft. „Du musst nicht länger grübeln.“ Er strich mir ein kleines Blatt aus dem Haar. „Und ich möchte nicht, dass du dich wegen unserem Dorf noch weiter in solche Gefahren begibst.“

Ein paar Sekunden lang sah er mich an. Es tat so furchtbar weh, sein traurig schönes Gesicht ansehen zu müssen und seine Stimme zu hören, die in diesem Moment samtweich war, obwohl sie doch schlimmen Gedanken Worte verlieh.

Sehr leise sagte er: „Verstehst du das?“

Mein Magen sackte ins Bodenlose.

Er riss seinen Blick von mir los, während ich ihn weiterhin anstarrte.

Ich konnte mich nicht rühren. Sogar meine Atmung leistete, wenn überhaupt, nur noch das Allernötigste.

„Es ist am besten so.“ Er hauchte einen Kuss auf meine Stirn.

Mein Herz brach mitten durch.