Wintergunge

Leseprobe: »Blizzard«

 

Ich hatte zwei Probleme.

Erstens: Ich wurde nicht braun. Da konnte man wohl nichts gegen machen.

Zweitens: Ich verliebte mich nicht.

 

Das Kratzen im Hals war über Nacht zu einem Kloß angewachsen. Dabei hatte ich am Samstag gar nicht so lange in der Kälte stehen wollen. Verdammter Mist! Jasper war nicht wirklich prickelnd gewesen. Andererseits hatte ich endlich mal ein Date mit einem Jungen gehabt. Aber der Abschied vor der Haustür. Oberpeinlich! Küssen war nicht mein Ding. Jedenfalls nicht mit dem.

Es blieb also dabei: Verlieben war nicht.

Mit megamieser Laune schleppte ich mich ins Bad, sagte meinem Spiegelbild guten Morgen. Och nee! Ich sah total scheiße aus: zwei gelbe Fremdkörper neben der Oberlippe. Hätte ich Jasper doch bloß stehen lassen. Aber einfach Tschüss und ins Haus hatte ich nicht fertiggebracht. Das hatte ich nun davon: Ekelpickel! Ich machte mich sofort daran, sie in Clearasil zu ertränken.

Meine Stirn war ganz heiß und ich hatte Schüttelfrost. Ich muckelte mich in meine Daunenbettdecke ein. Es war jetzt im Moment schön, einfach nur krank zu sein. Ich schob alles, was Klassenarbeit und Test hieß, über meinen Gedankenrand.

Als ich spät abends aufwachte, ging es mir fürchterlich.

„Andrea hat vor fünf Minuten angerufen. Sie schickt dir etwas, damit du das Kranksein genießen kannst. Sie hat wirklich genießen gesagt – typisch Andrea.“

Ich lächelte matt. Andrea war die krasseste Person, die ich in meinem vierzehnjährigen Leben kannte – und ein Päckchen von ihr war eine super Aussicht.

 

Am nächsten Morgen hatte der Kloß im Hals Gebirgsausmaße angenommen.

Meine Mutter hastete in die Apotheke, kaufte ein Antibiotikum und düste zur Arbeit.

In der Mittagszeit klingelte es an der Haustür.

“Ein Päckchen für dich. Du bist doch Lu Kranich?” Der Mann von der Paketpost drückte mir einen flachen Karton in die Hand. Ich unterschrieb, flüchtete ins warme Wohnzimmer und riss die Pappdeckel auf. Mein Blick fiel auf einen fliederfarbenen Briefbogen mit einem silbernen Rand.

 

Hallo du armes krankes Huhn,

ich wollte dir schon längst dieses Päckchen schicken. Hoffentlich geht es dir bald so gut, dass du mit der Arbeit loslegen kannst. Es eilt nämlich. Aber ich glaube, wir sind noch rechtzeitig. Dafür musst du dich aber ranhalten.

Liebe Grüße – Andrea

 

Jetzt packte ich ein in Seidenpapier eingewickeltes Lebkuchenherz aus, auf dem in ebenso weißem Zuckerguss stand: Liebe ist kosmisch… Außerdem kamen sechs Bastelbögen zum Vorschein, auf denen kunstvolle Fachwerkhäuser in auseinandergeklapptem Zustand aufgedruckt waren. Sie hatten an den Rändern Falze zum Zusammenkleben und auf jedem Gebäude stand eine Zahl. Es sah nach ziemlich viel Arbeit aus. Auf jeden Fall kein Kleinkinderbastelkram – das erkannte man auf den ersten Blick. Im Geiste sah ich das Dörfchen schon auf meiner Fensterbank – passend dekoriert mit kleinen Tannenzweigen, Kiefernzapfen und Moos. Kitschig und wunderschön. Wunderschön kitschig. Ich kicherte in mich hinein, studierte die Bastelanleitung und legte ich sofort los.

 

Nachts wurde ich wach. Ich fand es merkwürdig hell, zwang mich, die Augen etwas weiter zu öffnen. Liebe ist kosmisch … Die Aufschrift auf Andreas Lebkuchenherz an der Wand strahlte mich regelrecht an. Ich und Liebe. Ausgerechnet!

Da wisperte jemand. Mir blieb das Herz stehen. Die Worte kamen nicht aus der Richtung des Elternschlafzimmers. Sie kamen – nein, das war nicht möglich. Ich hatte wieder Fieber. Da fiel mein Blick auf die Wand und ich erschrak, als ich die leuchtende Schrift auf dem Lebkuchenherz entdeckte.

Ich bekam die heftigste Gänsehaut meines Lebens. Fühlte mich wie elektrisiert. Leise stand ich auf, ging ans Fenster, schob den Vorhang ein Stückchen auf und blickte auf die Straße. Es war niemand zu sehen. Ich schaute auf das fertig dekorierte Winterdorf auf meiner Fensterbank. Da konnte ja wohl niemand reden. Plötzlich musste ich grinsen und dachte, ich sei halt übergeschnappt. So was sollte es ja geben. Ich klemmte die Haare hinter die Ohren und beugte mich über das Dorf. Durch den dünnen Stoff des Vorhangs kam gerade so viel Licht von einer Straßenlaterne, dass ich die Umrisse und den Marktplatz sehen konnte. Da stand ganz deutlich eine Eins auf einem der Häuschen. Um besser sehen zu können, ging ich mit meinem Kopf ganz tief über den Marktplatz. Da passierte es: Ich wurde angezogen. Unweigerlich, magnetisch, magisch. Mein Kopf wurde nach unten gezogen, als hänge mir jemand ein unglaubliches Gewicht um den Hals – Gegenwehr zwecklos. Ein Schwindel ergriff mich und dann ging alles ganz schnell. Der Boden schwand unter meinen Füßen, ich verlor die Kontrolle, es rauschte in meinen Ohren, ich überschlug mich und landete hart mit dem Hintern auf einem Holzfußboden.

„Scheiße!“ Benommen blieb ich sitzen. Vor mir baute sich ein Mann in einem karierten Hemd auf. So ging also Halluzinieren. Langsam drehte ich meinen Kopf einmal nach links, dann nach rechts. Der Mann stand immer noch da.

„Mir wird schlecht.“

„Das kommt schon mal vor. Wegen dem Dreh und der Plötzlichkeit, mit der es von statten geht. Ich bin der Schuster. Du bist in Nummer eins“, sagte der Mann.Merk dir das. Man kann nämlich nur durch das Haus zurück, durch das man gekommen ist. Verstanden?“

„Nee, ist klar!“, stammelte ich. „Also, wie …?“

„Du musst um spätestens eine Minute vor eins wieder verschwinden – oder vierundzwanzig Stunden bleiben. Wie du willst. Alles klar?“

Der Schuster ging voraus in die Werkstatt. Ich zog die dicken Stricksocken an, die er mir hin hielt. Auch den riesigen Pullover und die Stiefel.

„Geh nur ins Dorf. Heute ist Nikolaus. Da ist mächtig was los bei uns. Aber vergiss nicht die Zeit. Null Uhr neunundfünfzig ist Abflug. Oder vierundzwanzig Stunden später. Du musst es wissen.“

Ich verließ das Haus und stapfte unsicher vorwärts. Kalt war es und es hatte geschneit. Wie toll es hier draußen aussah. Es gab Feuerstellen, um die sich Leute gruppiert hatten, die miteinander sprachen und lachten. Ein Mann stand vor einem Ofen, auf dessen Platte er Maronen backte.

Da kam ein Junge auf mich zu. Er war mindestens einen Kopf größer als ich und mindestens genauso dünn. Ich erschrak, weil er mich ansah, und wollte mich gerade umdrehen und einfach zurück in das Haus des Schusters gehen. Da stand er plötzlich vor mir.

„Du bist wohl nicht von hier?“ Er schaute mich immer noch an und ich blieb verdattert stehen. Meinte er wirklich mich? Seine dunklen Haare fielen ihm in die Stirn. Er fuhr mit der Hand hindurch, sodass sein Gesicht wieder frei war.

„Komm mit und probier doch die leckeren Sachen. Heute ist Nikolaus. Ist für alle genug da.“

Es brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass er wirklich nur mich meinen konnte. Ich fühlte, dass ich erstens rot wurde – zum Glück war es dunkel! – und zweitens, dass jetzt ich mit Sprechen an der Reihe war. Ehe ich etwas herausbrachte griff der Junge meinen Arm und zog mich hinter sich her.

„Womit fangen wir an? Maroni? Brezel? Oder lieber Honigkuchenpferd?“ Er sah mich an. „Zu empfehlen sind auch die Lebkuchenmännchen. Lebkuchenherzen gibt es natürlich auch.“ Er lächelte und zeigte auf einen Stand am anderen Ende des Platzes.

„Ich weiß nicht“, sagte ich dämlich und ärgerte mich sofort über diesen doofen Satz. Warum sagte ich so ein peinliches Zeug? Typisch! Ich drückte meinen Rücken gerade, das hatte ich im Ballettunterricht gelernt, und nahm neuen Anlauf: „Ich hätte gerne ein paar Maronen.“

„Dann komm mal mit. Ich möchte nämlich auch welche“, sagte der Junge. Wir steuerten den Ofen an, auf dem die Maronen lagen.

„Wie viele möchtet ihr?“, fragte der Maronimann und blickte uns so freundlich an, dass ich für einen Moment meine Beklemmungen vergaß. Er war ein groß gewachsener junger Mann, der den Eindruck machte, als wäre Maronen Verkaufen seine große Leidenschaft. Nicht nur sein Pullover sah aus wie eine Patchworkarbeit, auch seine zu weite Hose war an allen Ecken und Enden geflickt. Ich schob die Ärmel bis zu den Handgelenken hoch und hielt meine eiskalten Hände nahe an den Ofen.

„Ich denke, wir fangen erst einmal mit zehn Stück an. Für jeden, bitte“, antwortete der Junge. Wir erhielten jeder eine Tüte mit den abgezählten Maronen.

„Guten Appetit“, wünschte der nette Verkäufer noch, und dann wandte er sich anderen Kunden zu. Jetzt konnte man auch einen Blick auf seine abgetragenen Stiefel werfen. Meine angewärmten Finger waren wenigstens nicht mehr ganz so steif und zumindest in der Lage, die Tüte festzuhalten.

Während wir über den Platz schlenderten, schälten wir eine Marone nach der anderen. Fragen zu stellen traute ich mich nicht, obwohl ich davon reichlich hatte. Zum Beispiel die, warum wir nichts bezahlen mussten.

„Ich heiße Kai – und du?“, fragte der Junge kauend, was ihn weder am Sprechen noch am Lächeln hinderte. Sein Pullover mit den ledernen Ärmelschonern war eine Art Troyer, wie ihn die Seeleute tragen. Zusammen mit der schwarzen abgetragenen Hose und den hohen Boots, die ebenfalls einen abgenutzten Eindruck machten, sah er … Ich dachte nach und mir fiel das Wort verwegen ein. Ja, er sah verwegen aus. Eigentlich ähnlich wie der Maronimann. Hatten sie hier keine neuen Sachen anzuziehen?

Ich fühlte mich dabei ertappt, wie ich ihn von oben bis unten und wieder zurück musterte. Er tat in dem Moment dasselbe mit mir. Rasch sah ich zur Seite.

„Ich heiße Lu.“

„Lu? Den Namen habe ich noch nie gehört.“

Darauf fiel mir nichts Passendes ein.

„Klingt aber gut“, sagte er, als wolle er sich für den vorigen Satz entschuldigen.

Bald waren die Esskastanien alle.

„Gehen wir zu Lebkuchenmännchen über? Oder was meinst du?“

„Nichts dagegen“, brachte ich hervor.

„Sehr gut. Ich auch nicht. Und was ist mit Holunderapfelglühpunsch?“ Der Junge blickte mich forschend an. „Wird einem superwarm von.“

„Warm – das kann ich echt brauchen.“ Wegen der Kälte hatte ich meine Arme um meine Brust geschlungen.

„Na dann komm!“Er nahm mich an der Schulter.

Nach einem Glas Punsch wurde mir nicht nur warm, sondern mein Schockzustand begann sich zu lockern. Als ich nach oben blickte, sah ich in einen grandiosen Sternenhimmel. Nach dem zweiten Glas traute ich mich endlich, zu fragen, was es mit dem Dorf auf sich hatte. Ich erzählte Kai, dass ich krank gewesen sei und ein Winterdorf gebastelt hätte, das mir meine Patentante geschickt habe.

„Nun bin ich die zweite Nacht hier und eigentlich begreife ich nicht, wie …. also, wie …“ Weiter kam ich nicht. Ich war schon wieder völlig durcheinander.

Der Junge sah mir ins Gesicht und lächelte. Dabei entstanden rechts und links Grübchen auf seinen Wangen.

Da setzte ich doch noch mal an: „Aber es ist wunderschön hier.“

„Sagt jeder!“

„Nur weiß ich nicht, ob ich spinne oder vielleicht krank bin. Reif für die Anstalt.“

„Welche Anstalt?“ Er sah mich groß an. Begriff er etwa nicht, was ich meinte?

„Ich habe Angst, dass ich verrückt bin.“

„Ach so.“ Er lachte auf, wurde aber gleich wieder ernst. „Wenn du noch gar nicht informiert bist, musst du ja völlig durcheinander sein.“

„Das bin ich“, gab ich leise zu.

„Also: Du bist nicht verrückt. So   viel ist schon mal sicher.“

Ich wagte ein „Beruhigend!“

„Das gebastelte Dorf dient nur als Medium, damit du herkommen kannst.“

„Wahnsinn!“, hauchte ich.

„Erzähl, wie du es gebastelt hast“, forderte Kai mich auf.

Ich berichtete, dass Andrea, meine Patentante, es mir als Überraschung geschickt habe. „Sie wollte mich trösten, weil ich so eine heftige Mandelentzündung hatte.“ Ich schilderte, wie sorgfältig ich alles angemalt und ausgeschnitten und hinterher das Kunstwerk noch mit Tannengrün, getrocknetem Gras und Moos geschmückt hatte.

„Ob meine Tante nicht weiß, dass …“. Ich wusste nicht, wie ich mein Erlebnis in Worte fassen konnte. „Die Bastelei hat auf jeden Fall Spaß gemacht. Und das Dorf auf meiner Fensterbank ist einfach wunderschön.“

„Dann ist es also so geworden, wie du dir ein Winterdorf vorstellst?“

Ich sah ihn fragend an.

Er lächelte. „Also – wie du dir einen Ort auf der Welt wünschen würdest?“

„Genau so! So richtig gemütlich und schnuckelig.“

„So, dass du am liebsten dort wohnen würdest?“

Verlegen deutete ich ein Nicken an. „Ja, du hast recht.“

Er blickte mich von der Seite an.

„Du findest in unserem Dorf, was du dir in deinem Inneren wünschst.“

Ich bekam Gänsehaut. Aber nicht, weil mir kalt war.

Eine Pause entstand.

„Dein gebasteltes Dorf ist die Eintrittskarte für das wirkliche Dorf, was natürlich nicht auf deine Fensterbank passt“, sagte der Junge mit ruhiger Stimme und schaute mich weiter aus graublauen, mandelförmigen Augen an.

„Was ist?“, fragte er unvermittelt.

„Wieso fragst du?“, brachte ich stockend heraus.

Er trat nah an mich heran, beugte sich vor und sah mir ins Gesicht. „Du bist blass wie Elfenbein. Sieht man sogar bei dieser Beleuchtung.“

Unsere Augen trafen sich – nur kurz, denn ich konnte seinem Blick nicht standhalten. Das Atmen hatte ich eingestellt.

Plötzlich sah ich auf die Kirchturmuhr und bekam einen Wahnsinnsschreck. Die Uhr zeigte null Uhr fünfundfünfzig.

„Ich muss sofort weg!“

In Panik rannte ich über den Marktplatz zur Nummer eins, öffnete die Tür, zog die Stiefel aus, hastete durch die Werkstatt, durch den Flur zu der anderen Tür. Sofort drehte ich mich mit dem Rücken zum Ausgang, spürte, wie mein Kopf magnetisch nach hinten gezogen wurde, die Beine vom Boden abhoben und ich mit rückwärtigem Salto in die Tiefe gewirbelt wurde. Der Aufprall war schmerzhaft.

Wie ein Insektenschwarm summten meine Gedanken durch mein fassungsloses Gehirn.

Ich meinte, den Glühpunsch riechen und die fremden Menschen hören zu können. Auch blickte ich mich in der Dunkelheit meines Zimmers um, als stünde der Junge hier, Kai, den ich soeben kennengelernt hatte und der einen unerträglich schön anlächelte. Automatisch fuhr ich sanft mit einer Hand über sein Gesicht, das in meiner Vorstellung ganz nah an meines rückte, fühlte seine beiden Lachgrübchen. Sofort schlug mein Herz wieder aus dem Takt und meine Gedanken fuhren erneut Loopings auf der Achterbahn.